Über junge Menschen
Wenn ein junger Mensch sich geistig erfrischen will, besorgt er sich gerne eine Ausgabe entweder der Kritik der reinen Vernunft oder eine des Mannes ohne Eigenschaften. Denn er will beides: kritisieren und dabei möglichst wider die reine Vernunft in jugendlicher Eigenschaftslosigkeit aufgehen. Nun ist in beiden Fällen der junge Mensch vor eine Aufgabe gestellt, die ihm unnützerweise allen geistigen Aufwand abnötigt, ohne dass sich auch nur irgendein erwünschter Erfolg einstellen würde.
Bei seiner Kantlektüre würde sich der junge Mensch zunächst entscheiden müssen, ob er die erste Fassung oder die zweite Fassung der Kritik lesen möchte, denn bei der Anschaffung des Textes wurde nicht am falschen Ende gespart: Seine Ausgabe ist zwar broschiert, und durchaus ohne Kommentar, doch ist sie gerade dick genug, um die beiden Fassungen gegenüberstellend aufnehmen zu können. Für den jungen Menschen hat dies das folgende Angenehme: Er kann ein dickes Buch bequem überall hin mitnehmen, sich daraus die nach seinem Dünken kompliziertere Fassung auswählen, und diese dann im schnellen Fortschreiten lesen, da im Falle eines Paralleldrucks ja jede zweite Seite übersprungen werden kann. So kann er bald, das Lesezeichen schon auf Seite 170 steckend, das Buch wie zufällig irgendwo „unbeobachtet“ liegen lassen, und sich an den interessierten und sicherlich beeindruckten Blicken Fremder delektieren. Doch weh, man fragt ihn nach seinen Erkenntnissen, die er der Lektüre entnahm. Denn dann erinnert sich der junge Mensch an die vielen quälenden Minuten, die er in seiner Kammer zubrachte, in Gedanken sich um die mögliche Bedeutung allein der Einleitung mühend; einmal wiederholt lesend, einmal von hinten nach vorne lesend, ein ander Mal schließlich doch in einer „Einführung“ blätternd, die ihm das königsberger Gelehrtendeutsch dieses großen Kopfes deutscher Geistesgeschichte näherbringen sollte. Schließlich, wenn der junge Mensch sich genügend gequält zu haben glaubte, legte er das Buch beiseite und tat diesen Kant als alten Spinner ab, als überholten Naseweis, ja vielleicht sogar als Randnote seiner eigenen geistigen Entwicklung, und so wird er, nach seinem Lektüreerfolgen gefragt, womöglich antworten: „Ach, ich hab mir gedacht, ich lese wieder mal die Kritik der reinen Vernunft, um zu sehen, ob der Kant gescheiter geworden ist“ und lächelt ein wenig hochmütig.
Nach einiger Zeit in geistiger Demut verweilend, entschließt sich der junge Mensch dazu, die Philosophie als Beschäftigung für alte Männer abzutun und schwingt sich auf zu neuen geistigen Abenteuern, denn der Kopf will keine Ruh geben und verlangt nach Schwierigem. Darum wählt er möglichst den größten Roman des 20. Jahrhunderts, wie ihn eine namhafte Jury zu diesem gekürt hat, weil ein kleinerer ihm nicht anständig genug vorkommt. Es müsste also diesmal der Mann ohne Eigenschaften sein. Auch hier würde er wieder zur Taschenbuchausgabe greifen, um das Buch wie einen Talisman überall hin tragen zu können, es auf der kurzen Busfahrt neben einem jungen Mädchen aufschlagen zu können, und zu diesem Anlass vielleicht einmal ein Kapitel lesen, das sich etwas weiter hinten befindet. Nicht etwa um einen gewaltigen Lektürefortschritt vorzutäuschen, sondern sich des Mottos erinnernd, dass das Ganze auch im Teil zu finden wäre, und überhaupt weil das Buch so auch angenehmer zu halten wäre. Doch da würde dem jungen Menschen zum ersten Mal die arge Erkenntnis kommen, dass der von ihm erworbene Dünndruck sich des gemeinen Spiels, das die starke Sonneneinstrahlung durch das Seitenfenster mit ihm spielt, nicht erwehren kann, und so nicht nur die Wörter der aufgeschlagenen Seite, sondern auch jene der nächsten und übernächsten zu erkennen gibt. Suchend würde nun dieser junge Mensch auf das Buchstabengewirr vor ihm starren, sich der Muster ergötzend, die ihm der Dünndruck offenbart, und sich an eine ähnlich schlechte Taschenbuchausgabe eines Dostojewskijromans erinnernd, die er im Vorjahr unter ähnlich starken Zurufen des sich in ihm regenden Geistes erworben hatte. Während er so dasäße und darüber nachdächte, wie lang wohl ein geübter Leser für eine Seite Text bräuchte, wann es also Zeit wäre, das Mädchen neben ihm durch umständliches Umblättern leise am Ellbogen berühren zu können, ist er erleichtert, als dieses sich anschickt, den Bus zu verlassen. Traurig zwar, ein anregendes Gespräch über die österreichische Literatur der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts gemeinsam mit der Aussicht auf ein romantisches Wiedersehen versäumt zu haben, letztlich aber erleichtert, könnte er das dicke Buch wieder in seiner Tasche verschwinden lassen, um sich der Lektüre später, in privateren Rahmen zu widmen.
Ein paar Wochen später würde sich der junge Mensch durch ein paar Kapitel gelesen haben, würde fortan viel von einem Möglichkeitssinn sprechen, den es ja auch geben müsste, wenn schon so viel von einem Wirklichkeitssinn die Rede wäre, würde das Wort Kakanien immer dann verwenden, wenn er von einem längst vergangenen Österreich spräche, für das er plötzlich Interesse aufbrächte, obwohl ihm die vielen Monarchen, von denen er in diesem Zusammenhang immer in der Schule gehört hatte, eigentlich immer das Fürchten gelehrt hatten.
Letztlich aber würde der junge Mensch auch diese Lektüre wieder einstellen, sich in sein eigentliches Unterhaltungsuniversum zurückziehen, das aus leichter verdaulichen Spielfilmen und TV-Serien besteht, und, eingedenk seiner geistigen Höhenflüge zu Kant und Musil, auch noch im banalsten Filmcharakter etwas Transzendentales oder Eigenschaftsloses erkennen wollen. Er würde sich mit der Poesie des Alltags und der Philosophie der kleinen Freuden zufrieden geben, und dort und da anmerken, dass es letztlich ja auf die eigene Leistung des Denkens ankäme, und nicht darauf, große Geister zitieren zu können. Das häufige Unverständnis, das ihm bei tiefen Gesprächen mit Freunden und anderen Menschen entgegengebracht werden würde, wüsste er als Kleingeistigkeit abtun, aber nur im Stillen, denn in seiner Gnade könnte er es ja nicht übers Herz bringen, einen Kleingeist zu kränken.
Und wenn er selbst es einmal mit seinem Geist nicht mehr so ernst nehmen würde, dann würde den jungen Menschen der Gedanke, irgendwann überhaupt nicht mehr ernst genommen zu werden, mit zarter Hoffnung füllen.
Bei seiner Kantlektüre würde sich der junge Mensch zunächst entscheiden müssen, ob er die erste Fassung oder die zweite Fassung der Kritik lesen möchte, denn bei der Anschaffung des Textes wurde nicht am falschen Ende gespart: Seine Ausgabe ist zwar broschiert, und durchaus ohne Kommentar, doch ist sie gerade dick genug, um die beiden Fassungen gegenüberstellend aufnehmen zu können. Für den jungen Menschen hat dies das folgende Angenehme: Er kann ein dickes Buch bequem überall hin mitnehmen, sich daraus die nach seinem Dünken kompliziertere Fassung auswählen, und diese dann im schnellen Fortschreiten lesen, da im Falle eines Paralleldrucks ja jede zweite Seite übersprungen werden kann. So kann er bald, das Lesezeichen schon auf Seite 170 steckend, das Buch wie zufällig irgendwo „unbeobachtet“ liegen lassen, und sich an den interessierten und sicherlich beeindruckten Blicken Fremder delektieren. Doch weh, man fragt ihn nach seinen Erkenntnissen, die er der Lektüre entnahm. Denn dann erinnert sich der junge Mensch an die vielen quälenden Minuten, die er in seiner Kammer zubrachte, in Gedanken sich um die mögliche Bedeutung allein der Einleitung mühend; einmal wiederholt lesend, einmal von hinten nach vorne lesend, ein ander Mal schließlich doch in einer „Einführung“ blätternd, die ihm das königsberger Gelehrtendeutsch dieses großen Kopfes deutscher Geistesgeschichte näherbringen sollte. Schließlich, wenn der junge Mensch sich genügend gequält zu haben glaubte, legte er das Buch beiseite und tat diesen Kant als alten Spinner ab, als überholten Naseweis, ja vielleicht sogar als Randnote seiner eigenen geistigen Entwicklung, und so wird er, nach seinem Lektüreerfolgen gefragt, womöglich antworten: „Ach, ich hab mir gedacht, ich lese wieder mal die Kritik der reinen Vernunft, um zu sehen, ob der Kant gescheiter geworden ist“ und lächelt ein wenig hochmütig.
Nach einiger Zeit in geistiger Demut verweilend, entschließt sich der junge Mensch dazu, die Philosophie als Beschäftigung für alte Männer abzutun und schwingt sich auf zu neuen geistigen Abenteuern, denn der Kopf will keine Ruh geben und verlangt nach Schwierigem. Darum wählt er möglichst den größten Roman des 20. Jahrhunderts, wie ihn eine namhafte Jury zu diesem gekürt hat, weil ein kleinerer ihm nicht anständig genug vorkommt. Es müsste also diesmal der Mann ohne Eigenschaften sein. Auch hier würde er wieder zur Taschenbuchausgabe greifen, um das Buch wie einen Talisman überall hin tragen zu können, es auf der kurzen Busfahrt neben einem jungen Mädchen aufschlagen zu können, und zu diesem Anlass vielleicht einmal ein Kapitel lesen, das sich etwas weiter hinten befindet. Nicht etwa um einen gewaltigen Lektürefortschritt vorzutäuschen, sondern sich des Mottos erinnernd, dass das Ganze auch im Teil zu finden wäre, und überhaupt weil das Buch so auch angenehmer zu halten wäre. Doch da würde dem jungen Menschen zum ersten Mal die arge Erkenntnis kommen, dass der von ihm erworbene Dünndruck sich des gemeinen Spiels, das die starke Sonneneinstrahlung durch das Seitenfenster mit ihm spielt, nicht erwehren kann, und so nicht nur die Wörter der aufgeschlagenen Seite, sondern auch jene der nächsten und übernächsten zu erkennen gibt. Suchend würde nun dieser junge Mensch auf das Buchstabengewirr vor ihm starren, sich der Muster ergötzend, die ihm der Dünndruck offenbart, und sich an eine ähnlich schlechte Taschenbuchausgabe eines Dostojewskijromans erinnernd, die er im Vorjahr unter ähnlich starken Zurufen des sich in ihm regenden Geistes erworben hatte. Während er so dasäße und darüber nachdächte, wie lang wohl ein geübter Leser für eine Seite Text bräuchte, wann es also Zeit wäre, das Mädchen neben ihm durch umständliches Umblättern leise am Ellbogen berühren zu können, ist er erleichtert, als dieses sich anschickt, den Bus zu verlassen. Traurig zwar, ein anregendes Gespräch über die österreichische Literatur der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts gemeinsam mit der Aussicht auf ein romantisches Wiedersehen versäumt zu haben, letztlich aber erleichtert, könnte er das dicke Buch wieder in seiner Tasche verschwinden lassen, um sich der Lektüre später, in privateren Rahmen zu widmen.
Ein paar Wochen später würde sich der junge Mensch durch ein paar Kapitel gelesen haben, würde fortan viel von einem Möglichkeitssinn sprechen, den es ja auch geben müsste, wenn schon so viel von einem Wirklichkeitssinn die Rede wäre, würde das Wort Kakanien immer dann verwenden, wenn er von einem längst vergangenen Österreich spräche, für das er plötzlich Interesse aufbrächte, obwohl ihm die vielen Monarchen, von denen er in diesem Zusammenhang immer in der Schule gehört hatte, eigentlich immer das Fürchten gelehrt hatten.
Letztlich aber würde der junge Mensch auch diese Lektüre wieder einstellen, sich in sein eigentliches Unterhaltungsuniversum zurückziehen, das aus leichter verdaulichen Spielfilmen und TV-Serien besteht, und, eingedenk seiner geistigen Höhenflüge zu Kant und Musil, auch noch im banalsten Filmcharakter etwas Transzendentales oder Eigenschaftsloses erkennen wollen. Er würde sich mit der Poesie des Alltags und der Philosophie der kleinen Freuden zufrieden geben, und dort und da anmerken, dass es letztlich ja auf die eigene Leistung des Denkens ankäme, und nicht darauf, große Geister zitieren zu können. Das häufige Unverständnis, das ihm bei tiefen Gesprächen mit Freunden und anderen Menschen entgegengebracht werden würde, wüsste er als Kleingeistigkeit abtun, aber nur im Stillen, denn in seiner Gnade könnte er es ja nicht übers Herz bringen, einen Kleingeist zu kränken.
Und wenn er selbst es einmal mit seinem Geist nicht mehr so ernst nehmen würde, dann würde den jungen Menschen der Gedanke, irgendwann überhaupt nicht mehr ernst genommen zu werden, mit zarter Hoffnung füllen.
Hrabanus - 12. Nov, 22:12