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Sonntag, 20. August 2006

Nostalgisches und Jahreszeiten

Wenn es darum geht, sich ein inneres Bild der Jahreszeit zu malen, jener aktuellen Jahreszeit die ich meine, dann kann ich mich weder auf den Kalender noch auf meine Phantasie verlassen. Man möge mir Nostalgisches verzeihen, aber die Jahreszeit spielt sich in der Erinnerung ab, spiegelt sich dort wider, ja erwacht dort erst zu dem, was sie jetzt ist. So wie man sich nicht dem Kalender, sondern der Außentemperatur gemäß ankleidet, so erlebt man auch die Jahreszeit nicht kalendergemäß, sondern so, wie sich das Wetter gibt.
Sei es auch Mitte August: Sobald ich den nebelverhangenen Berghang vor meinem Fenster sehe, es ein wenig kühl im Hause wird, und sich die Wolken nicht und nicht auftun wollen, um eine augustgerechte Sonne anzuzeigen, kommt da Steppenwolfstimmung hoch. Jene Stimmung nämlich, wie ich ich den Herbst vor etwa vier Jahren erlebte. Damals drückte der Nebel in Unterkärnten alle Sonnenstrahlen dorthin zurück, woher sie zu kommen bemüht waren, und stattdessen fielen Regenstrahlen auf die Häute. Das Thermalwasser von unten, das Regenwasser von oben mich angreifend erlebte ich die Geschichte jenes Harry Hallers, der in Hesses Steppenwolf die Hauptfigur gab. Ich erinnere mich kaum noch an die Handlung, ja weiß gerade noch, dass das Suhrkamp Taschenbuch einen dunkelblauen Einband hatte, denn alles was von diesem grandiosen – so vermute ich zumindest – Stück Literatur blieb, war die Stimmung, die es in mir zu verursachen wusste. Diese Stimmung, die ich weder zu beschreiben fähig bin, die aber seit damals mein Herbstbewusstsein prägte und noch immer zu prägen imstande ist.
Zugleich ist es die Musik von Prince, die mir diesen damaligen Herbst so unauslöschlich in die Erinnerung brannte, und auch hiefür weiß ich keinen tieferen Grund anzugeben, als jenen, dass es damals eben zufällig Prince war, dessen Musik mir die Kälte aus den Venen trieb, in der ich mich genauso zuhause fühlte, wie in Harry Hallers Geschichte. Dass Musik und Literatur in meinem Falle in gar keinem Zusammenhang stehen, ist mir mehr als klar, und auch sämtliche Vermutungen, die in diese Richtung zielten, fanden nie zu einem schlüssigen Ende. Allein dass es so war, das blieb und bleibt noch heute, auch wenn ich zugeben muss, dass es wohl nicht ewig so sein wird, da dieses Mal der Herbst bereits über eine andere Schiene in mein Bewusstsein schleicht.
Auch dieses Mal ist es wieder die Musik, die ihren Teil dazu beiträgt. Wenn ich auch zugeben muss, dass jene Jahreszeitengefühle – sie hängen meistens von der Musik ab – immer zu früh kommen, als es ein Kalender für nötig befinden würde, so ergreifen sie mich dafür umso untrüglicher, umso intensiver. Da tut sich ein Spalt auf zwischen gefühlter und tatsächlicher Jahreszeit. Und das Gefühl kommt in mir hoch, dass diese zeitliche Differenz möglicherweise mit dem schnelleren Erleben der Zeit, wie sie mit zunehmenden Alter üblich zu sein scheint, zu tun hat. Was aber passiert mit dem Loch dazwischen? Was ist mit dem erlebten Oktober im August, wenn dann tatsächlich Oktober ist? Ist zweiterer frei von Erinnerungen? Möglicherweise ja, möglicherweise nein. Fakt ist, dass ich gerade diese Zeit, das letzte Drittel des Augusts nämlich, schon vor etwa einem Monat heraufbeschworen habe. Zur Feier der Erinnerung begann ich wieder, bestimmte Lieder von Element of Crime zu hören, die ich damals in meinem neu gekauften Autoradio auf und ab spielte.
Jetzt aber, in der Mitte des Augusts, in der schon wieder der Oktober anzuklingen versucht, erinnere ich mich an eine kalte Ankunft zuhause (oder war es gar schon November), das neue Album der Babyshambles hörend (noch vor der Veröffentlichung versteht sich), sich an die Klänge gewöhnend, frierend. So finde ich mich heute wieder, ein Video über Pete Doherty sehend, mich an jene Zeit erinnernd, die mich im letzten Herbst „jetzt“ sagen machte.
Tatsächlich lässt sich dieses Jahreszeitenbewusstsein nur über Musik gepaart mit Wetterstimmung aktivieren. Und immer gierend nach Nostalgie, kommt dieses Bewusstsein schon im Vorhinein, sobald sich das Wetter einen Ausrutscher leistet: Einen kalten Augusttag, einen zu warmen Märztag, einen verschneiten Novembertag und Ähnliches.
Zum anderen ist es das Erinnern an meine zweite Heimat. Die Erinnerung, von der ich so gern lebe, drängt sich dieser Tage auf, indem ich Mails von Studienkollegen erhalte, oder Ankündigungen zum Lehrveranstaltungsangebot des nächsten Semesters. Gleichzeitig flackern schon wieder Bilder von laubbedeckten Gehsteigen in Unigegend auf, ja sogar der eine oder andere strenge Wind pfeift in meiner Erinnerung mir den Duft von frischem Sturm in die imaginäre Nase.
In diesem nostalgischen Kram verstrickt, bleibt mir aufgrund der zeitlichen Differenz zwischen erinnertem – sagen wir – Herbst und tatsächlichem Herbst genug Zeit für das Jetzt. Doch auch wenn ich noch so an den Herbst erinnert werde, wenn es noch so bunte Wälder vor mein inneres Aug treibt, so weiß ich doch, dass die Zeit noch nicht gekommen ist, die ich fühle. Glücklicher, der ich wohl irgendwann in Erinnerung jene Monate erleben darf, die mir der Tod zu nehmen versuchen wird.
Wenn Milan Kundera die Nostalgie als ein Leiden an der Unwissenheit bestimmt, was den Begriff des „Leidens an der Unmöglichkeit der Rückkehr in die Heimat“ vom gewöhnlichen Heimweh abhebt und verallgemeinert, so gibt er der Nostalgie eine Dimension, die freilich das Räumliche übersteigt und in das Existenzielle hineinragt. Darüberhinaus aber sollte der zeitliche Faktor nicht vergessen werden, der die Nostalgie wesentlich mitbestimmt, wie ich meine. Auch Kundera sieht diesen Punkt, wenn er meint, dass sich die „Sehnsucht“ (ein Wort, das laut ihm im Deutschen oft das Wort Nostalgie ersetzt) sowohl auf Gewesenes als auch auf etwas nie Gewesenes bezieht. Meine Nostalgie also bewegt sich mittendrin, zwischen dem Gewesenen und dem noch nicht Gewesenen, und hat doch kein bisschen mit dem Jetzt zu tun, und auch nicht, wie ich versichern kann, mit irgendeiner Art von Sehnsucht. Auch ist sie weniger ein Leiden, als ein verträumtes Schwelgen in Erinnerung, nicht an bestimmte Ereignisse, sondern Erinnerung an ein Gefühl des Seins, wie es in der Vergangenheit „stattgefunden“ hat. Nur so kann ich mir auch sicher sein, dass ich der bin, der ich auch vor einem Jahr war. Nur so kann ich von mir selbst sprechen, weil ich mich in ebenjener Nostalgie, ebenjenen Erinnerungen wiedererkenne, auch wenn ich nicht wahrhaben will, dass etwa Prince eine so merkwürdige Rolle spielte. Aber wogegen will man sich wehren?

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